Im Jahr 2012, als ich zum ersten Mal mit meiner Tochter, die damals 13 Jahre alt war, nach Südindien reise, gehören wir einer kleinen Gruppe von Erwachsenen an, die sich einer spirituellen Reise anschließen. Sechzehn Tage sind wir unterwegs, besuchen Tiruvannamalai, Auroville und Kerala. Ich sammel unvergessliche Erlebnisse, Eindrücke und Erkenntnisse.
Sechs Jahre später, mit meinem 15-jährigen Sohn, gehe ich erneut reisen – diesmal für vier Monate. Ich kehre zu den Orten zurück, die ich bereits kenne, aber auch unbekannte Ziele warten auf uns. Nun sind wir zu zweit, und während der gesamten Reise, bis zum Ende, spüre ich eine tiefe Zuversicht und Vertrauen in dieses wunderschöne Land und all seine Herausforderungen.
Wieder sechs Jahre (zufällig) später fliege ich alleine nach Südindien. Ich kann mich an keine Reise außerhalb Deutschlands erinnern, bei der ich alleine unterwegs war.
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Zuerst komme ich in meinem Gemeinschaftsdorf an, in dem ich von 2010 bis 2020 lebte – ein Ort voller Erinnerungen, der sich vertraut und doch verändert anfühlt.
Als ich im Zimmer von meiner Gastgeberin Anne ankomme, sitze ich auf dem Bett und bin echt froh über die Unterkunft, bevor es morgen zum Flughafen geht. In mir pendelt sich schon bald ein dumpfes Gemüt ein, das von meinem Bauchnabel bis hin zu meinem Kopf reicht - schwer und unaufhörlich. Ich lasse den Zustand zu – Starre, Bewegungslosigkeit. Ich atme tief ein und frage mich immer wieder: „Will ich diesen Zustand?“
Ich setze mich auf und entdecke unter mir etwas, das ich übersehen habe: meine Brille. Als ich sie unter mir hervor hole, sehe ich dass der Bügel aus der Verankerung gebrochen ist, und das dieser auch verbogen aussieht. Ein Spiegel für meine bleierne Schwere. Ich frage mich, ob ich wirklich weiter in diesem Zustand auf das Durcheinander um mich blicken will. Der Rucksack, die Taschen – alles ausgepackt und die Sachen verstreut im ganzen Raum.
„Okay! "Nein!" – Entschlossen fahre ich meine Wut hoch. Ich will mich nicht länger in diesem Chaos verlieren. Schritt für Schritt arbeite ich mich aus diesem Zustand heraus, und mit jedem „Okay! "Nein!" komme ich mir näher. Da ist ein Raum für meine Wut, sie gibt mir Energie. Um das Bett herum herrscht Chaos, aber ich freue mich auch, weil ich hier in meinem eigenen Tempo sein kann. Und ich fühle Zuversicht, dass ich bis morgen alles organisieren werde – für die Fahrt zum Frankfurter Flughafen.
Doch da ist auch Angst. Gedanken schießen durch meinen Kopf: „Du kommst arm zurück“, oder „Es ist gefährlich in Indien, Frauen haben dort keinen Wert.“ Die Stimmen nehmen mich ein und lähmen mich. Erinnerungen an Berichte über Massenvergewaltigungen und Diskriminierung von Frauen kommen hoch. Ich fühle Wut und Traurigkeit, dass ich den Stimmen so viel Macht gebe. Ich nutze meine Wut und gebe mir weiter einen Ruck.
Ich bin motiviert nach Indien zu reisen. In Kontakt zu gehen mit diesem Land und der Kultur. Ich will reisen, erleben und Erfahrungen machen.
Was wird denn wirklich sein?
Ich liebe jedenfalls vieles in Indien: das Essen, die Temperaturen im Januar, wenn in Deutschland der Winter tobt. Ich freue mich auf die Farben, die wunderschönen Frauen mit ihren Saris, die Natur, die Klänge, die Pfauen, die frechen Affen, die Marktstände, und natürlich auf den Masala Chai am Straßenrand. Ich möchte mein Englisch weiter verbessern und Menschen kennenlernen.
Ich blicke auf meinen 50-Liter-Rucksack, der mich begleiten wird. Der wiegt etwa 12 Kilo, und ich überlege noch, was wirklich wichtig ist und was nicht. Ich packe aus, packe wieder ein, ordne die letzten Unterlagen. Schritt für Schritt lässt die Starre nach.
Entschlossen fahre ich am nächsten Morgen noch nach Crailsheim, in den nächst gelegenen größeren Ort. Meine Zeit ist knapp, aber ich behalte sie im Blick. Ich erledige die letzten Besorgungen: beim Optiker (die Brille wurde improvisiert repariert), beim Schlüsseldienst (Vorhängeschloss), in der Apotheke (Reisedurchfall Tabletten, die hoffentlich nicht nötig sein werden) und zum Abschluss schaffe ich es pünktlich zum Pizzaessen mit meiner süßen Patchwork Familie.
Dann ist es soweit. Ich verabschiede den Vater unserer Kinder und seine Frau mit gemeinsamen Sohn und noch von ihr den großen Sohn aus erster Beziehung. Jetzt fühle ich mich bereit für die anstehende Reisezeit - ich fühle Freude.
13 Uhr fährt mich mein Sohn zum Flughafen nach Frankfurt. Wir kommen rechtzeitig an, und ich danke ihm. Ich gehe durch die große Eingangshalle - schon bin ich verschluckt und finde mich wieder in der Abflughalle wieder.
Ich feiere “meine Kinder”, dass sie sich mit mir freuen. Sie sind stolz auf mich, dass ich diese Reise nach Indien alleine antrete.
Ohne konkreten Plan lasse ich meine Augen nach links und rechts schweifen, bis ich die große Anzeigetafel entdecke. Ich entdecke meinen Flug noch nicht, aber ich bemerke einen großen rosa Turban und folge einem Inder mit seiner Familie. Nach nur zwei Minuten erreiche ich den Check-In, und schon stehe ich am richtigen Schalter. Es geht alles sehr schnell beim Zoll und ich schlendere vorbei an Shops, bis sich schließlich das Gate öffnet - eine Pforte in den Himmel in das zauberhafte, wilde Indien.
30./31.12.2024
Südindien - Erleben und Wirklichkeit
Der Flieger startet in Frankfurt am Main 1 Stunde später. In Folge fällt mein geplanter Flieger aus. Genauso meine Abholung mit einem bereits bestellten Taxi und ich stehe 3 Stunden später in der Ankunftshalle von Chennai und die letzte Türe spuckt mich ohne großes Aufsehen einfach aus. Ich hatte ein Gewusel in Erinnerung mit vielen Menschen. Hier sehe ich lediglich Taxifahrer, die auf mich zukommen. Es ist später Nachmittag. Sie stürzen sich auf mich wie Haie. Mit einem Handwink und einem weiteren und noch einen halte ich sie mir erstmal fern. Ich brauche jetzt Klarheit, was jetzt wirklich wichtig ist und vor allem, wie ich ohne SIM-Karte hier sein kann, bis ich ein funktionierendes Telefon habe.
An einem Schalter für vermisste Gepäckstücke fragte ich eine Frau, ob es hier einen Airtel-Shop für mein Anliegen gibt, an eine SIM-Karte zu gelangen. Mein Kopf sagt, nur so komme ich auf eine sichere Weise zu meinem Hostel. Ich traue den Taxifahrern nicht. Am Besten mag ich es über Uber versuchen, so wie ich vor 6 Jahren fantastische Erinnerungen daran habe. Die Frau konnte mir nicht direkt behilflich sein. Ich solle aber mit einem dieser kostenlosen Elektroautos zum Terminal 2 fahren, dort würde es mehrere Läden geben. Gute Idee. Ich nehme sofort Kurs auf und steige in ein solches Fahrzeug mit einem Fahrer und sage, wo ich hin will. Das funktioniert einwandfrei. Ich steige aus und mir ist nicht klar, wo es jetzt zu diesen Läden geht. Steuere orientierungslos in der Gegend rum, dann fahre ich mit einem Fahrstuhl rauf und gleich wieder runter, weil ich nichts entdecke, was mir gerade hilft. Unten erblickt mich der nächste und diesmal nur ein einziger Taxifahrer. Ich fühle Angst und höre mir sein Taxi Angebot an. Ich sage ihm, dass ich zu einem Handyshop fahren will, und zeige ihm die Adresse, die ich noch in Deutschland gespeichert hatte. Englisch spricht der Mann noch weniger als ich.
Ich scanne diesen Mann. Ein bisschen ist es für mich wie ein Theaterspielen und lache innerlich über mich selbst, wie ich hier auf der Bühne in Indien nach Halt suche. Jedoch frage ich mich ernsthaft “Vertraue ich ihm”? Er lotst mich in ein Parkhaus und ich folge ihm. Meiner Erschöpfung gebe ich keine Aufmerksamkeit, bemerke sie lediglich und fahre meine Sender für Gefahr hoch. Ich wittere nichts weiter als einen Taxifahrer mit einem Film von Restalkohol auf seiner Gesichtshaut, der ein paar Rupies verdienen will. Dennoch prüfe ich ihn nochmal und teile ihm mit, dass ich warten will, bis er vom 3. Stock mit seinem Auto runter fährt und ich hier unten gerne einsteige. Er deutet ohne großartig zu sprechen an, dass dies für ihn nicht geht, wegen des Parkverbotes da wo ich warten will und zeigt zu einer Polizei Strassenkontrolle, die gerade stattfindet. Er müsse woanders rausfahren, dort wäre es besser - ich empfinde ihn als unaufdringlich, gewaltlos, fast schon fürsorglich in der Stimme und in den Augen und gleichzeitig bestimmend. Er weiß wohl, was er will. Ich entscheide mich, mit ihm mit zu gehen. Wir nehmen einen Lift und er befördert für 2 Frauen noch Gepäckstücke mit hinein. Ich habe den Eindruck, dass er Respekt vermittelt. Auch wenn ich immer noch die Geschichte überprüfe, ob er dies macht, um mich dadurch zu überzeugen, dass er auch wirklich in Ordnung ist. Zumindest bin ich froh über 2 Frauen, die mit mir in den 3. Stock fahren.
Tatsächlich steht ein klassisches schwarzes Taxi da und wartet darauf, mit uns endlich durch den dichten indischen Straßenverkehr zu fahren, und das am letzten Tag des Jahres. Mir scheint, als wollten alle Menschen auf unserer Strecke zu einem Ziel fahren. Ich erfahre, dass am Strand das neue Jahr begrüßt werden will und das von sehr sehr vielen Menschen und ja, in diesem Strom befinden wir uns.
Mit der Flugverspätung und dem Abenteuer durch die verstopften Straßen in Chennai, komme ich schließlich 6 Stunden später als geplant am frühen Abend in der Dunkelheit in meinem Hostel um 18 Uhr an. Dass ich in Indien Überraschungen haben werde, darauf habe ich mich ja eingestellt - nur welche diese sein werden, bleibt dabei natürlich spannend.
Ich werde zu meinem Zimmer geführt. Als ich mein Gepäck abstelle und mich auf das Bett setze, lasse ich meine Erschöpfung zu.
Dadurch, dass ich ein drittes Mal in Indien reise, bemerke ich vermutlich auch eine gewisse Ruhe. Ich benutze meine Aufmerksamkeit bewusst, um meinen Atem wahrzunehmen. Mein Bedürfnis, etwas essen zu wollen, steigt in mir hoch.
Beim Umblicken im Zimmer entdecke ich eine pure, nackte, ehrliche Atmosphäre - für mich erzeugt durch die minimalistische Einrichtung mit seinen rohen weißen Wänden und dem unverfrorenen grauen Betonboden - ohne weitere Worte zu finden, wirkt die Atmosphäre auf mich ein. Worte beschreiben gerade nur annähernd mein Erleben. Ich könnte jetzt auch in die Abwertung gehen und mir einreden, dass ich mich wirklich vertan habe mit der Buchung - nein, dafür sehe ich keinen Anlass. Ich wiege mehr mein Abenteuer, das ich gerade erst beginne und freue mich mit etwas Ängstlichkeit, die ich mir zugestehe für alles Unbekannte. Die Matratze mutet mehr als Pritsche an, als eine einsinkende Landschaft unter meinem sitzenden Körper. Sie verspricht nun erstmal keine sehr gemütliche Nacht. Bewusst atme ich aus und bevor ich einatme, empfinde ich eine gigantische Stille in mir, obwohl draußen auf den Straßen ein lautes wiederum ein anderes lautes Geräusch überbietet ohne Unterlass.
Ein leises Hungergefühl nehme ich wieder wahr und damit regt sich die Angst und ich frage mich, wie ich allein und beschützt das erste Mal durch das lebendige und bunte Leben in Indien zu Fuß unterwegs sein kann für ein erstes Essen und eine durchgeschlafene Nacht. Meine Erfahrungen zeigen, dass ich mit Hunger in meinem Bett wach liege und damit Gefahr laufe, mich in einer Achterbahn in der Weite des dunklen Universums wiederzufinden. Dort fliege ich in einer gleichmäßigen Geschwindigkeit ohne meinen Körper, dort gibt es nur mich und ich weiß gar nicht mehr, wer ich ohne meinen Körper bin. Das beunruhigt mich jedesmal - ich kann darin eine Weile mit meiner Forschung "wer ich hier bin” sein und ab irgendwann treffe ich die Entscheidung zwischen dem Wachsein oder dem Gang in die Küche, um eine Banane zu essen. Nach einer Banane, egal wie spät es ist, schlafe ich für gewöhnlich wieder ein. Nur! Hier in diesem Zimmer - mit eigenem Bad angrenzend an mein Zimmer und einer weiterführenden nicht ganz schließenden Türe, die sich nach außen zum öffentlichen Flur minder gesichert befindet mit einen windigen und wackeligen silbernen Türhaken - habe ich KEINE Banane. Ich werde die ganze Nacht fliegen, ohne ein Essen gejagt zu haben. Das Wlan funktioniert nicht - das kündigte der Mann an der Rezeption schon an, als ich vorhin eintraf. “Ausgerechnet heute” sagt der Mann beteuert bedauernd und hofft, dass es bald wieder funktioniert. Ein zweites Mal an der Rezeption will ich mich nochmal nach dem Wlan erkundigen und schlendere bei etwa 28 Grad das hellblaue Treppengeländer auf hölzernen Stufen hinunter. Ich lache den nostalgisch anmutenden Innenhof an, mit seinem originellen Holzgebälk. Ich empfinde zwischen diesem wundersamen Konstrukt und mir eine Liebe. Da blitzt eine Schönheit aus dem heruntergekommenen und fast schon drohend zerfallenden Gebäude heraus, sodass es wie schläft unter einer Decke, worunter Liebe wohnen muss und mich in die Traurigkeit bringt. Ich bin sicher, ich bin nicht die Einzige, die das Potential in diesem Haus hier sieht. Wer sich diesem Werk hier annimmt, würde vielleicht tatsächlich viel Liebe hervorbringen?
An der Rezeption angekommen, steht dort ein weiterer Gast. Der Mann ist zwei Köpfe größer als ich und umschultert links und rechts von 2 kleinen hellbraunen Ledertaschen, die einer Revolverhaltung gleichen. Ich schaue ihn prüfend an - blitzschnell. Ohne Furcht, frage ich den großgewachsenen Mann mit meinem Blick nach oben, in seine Augen blickend auf deutsch, ob er mit mir essen geht. Er sagt “ja”, bevor ich überhaupt weiß, wie der Gast heißt oder welche Sprache er überhaupt spricht - offensichtlich funktioniert irgendetwas und bin über mich selbst überrascht, wie überzeugt ich auf deutsch losgesprochen habe. Nachdem wir uns mit Namen vorstellen, äußert er sich darüber, dass er will, dass ich mit ihm englisch spreche. Er ist Engländer und kann tatsächlich nur ein paar Worte deutsch sprechen. Und wenn ich 10 Minuten warte, würde er mit mir essen gehen. Ist das wunderbar oder wunderbar?
Fortsetzung folgt.....

